Die eigene Neugierde trainieren: Sind Sie ein guter Beobachter?

„Mit einem Dach und seinem Schatten dreht

sich eine kleine Weile der Bestand

von bunten Pferden, alle aus dem Land,

das lange zögert, eh es untergeht.

Zwar manche sind an Wagen angespannt,

doch alle haben Mut in ihren Mienen;

ein böser roter Löwe geht mit ihnen

und dann und wann ein weißer Elefant.

 

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,

nur daß er einen Sattel trägt und drüber

ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

 

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge

und hält sich mit der kleinen heißen Hand,

dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

 

Und dann und wann ein weißer Elefant.

 

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,

auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge

fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge

schauen sie auf, irgendwohin, herüber.

 

Und dann und wann ein weißer Elefant.

 

Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,

und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.

Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,

ein kleines kaum begonnenes Profil.

Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,

ein seliges, das blendet und verschwendet

an dieses atemlose blinde Spiel…
(Rilke: Das Karussel)

 

Weihnachten steht wieder vor der Tür. Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich als Kind auf diese Zeit gefreut haben? Wie es geschneit hat? Die schmelzenden Schneeflocken auf der Zunge? Den kratzigen Schal? An den Duft von Plätzchen und Bratäpfeln auf dem Weihnachtsmarkt, die vielen Kerzen und Sterne – und wie das Karussell dort seine Runden drehte? Rilkes Gedicht gibt uns einen Widerschein der vielen Impressionen, in denen wir uns bewegen – und die wir kaum mehr bewusst wahrnehmen. Weihnachten gibt uns eine schöne Gelegenheit, die kindliche Neugierde wieder in uns zu wecken – bieten die vielen Lichter, Düfte, Geräusche, Begegnungen und Erlebnisse doch eine wunderbare Fülle für kleine Experimente zur Schärfung unserer (Selbst-)Beobachtung. Oder, um es mit den Worten von Ortega y Gasset zu sagen: „Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohl geöffnete Augen.“

Was geschieht um mich? Der Einstieg: die Umgebung beobachten.

Können auch Sie sich für Ihre Umgebung begeistern? Achten Sie doch mal darauf, was es um Sie herum Bemerkenswertes zu entdecken und mit Aufmerksamkeit wahrzunehmen gibt? Vielleicht heute am Abend beim Besuch des Weihnachtsmarktes, am Wochenende bei der Besorgung von Geschenken oder vielleicht beim Schmücken des Weihnachtsbaumes.

Auch Bekanntes lässt sich mit neuen Augen sehen. Überall kann Kreativität entdeckt werden. Nutzen Sie diese Möglichkeiten bewusster, trainieren Sie die eigene Neugierde. Schenken Sie den Dingen um sich herum eine größere Portion Aufmerksamkeit, sensibilisieren Sie Ihre Wahrnehmungskanäle.

Was geschieht in mir? Die Ausbaustufe: sich dabei selbst reflektieren.

In einem zweiten Schritt ergänzen Sie dann noch die Beobachtung Ihres eigenen Selbst. Achten Sie auf die Dinge, die in Ihnen vorgehen: Welche Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle und Einstellungen entdecken Sie bei sich selbst?

Eine einfache Übung für den Einstieg: Gehen Sie aus dem Haus, laufen Sie einige Schritte und beobachten Sie Ihre Umgebung, lauschen Sie den Geräuschen und achten Sie auch auf Gerüche. Nach einigen Minuten kehren Sie zurück und notieren sich Ihre Eindrücke und Gefühle.Und keine Angst vor dem weißen Blatt. Es geht nicht um die perfekte Wortwahl. Einfach unbekümmert aufschreiben, was Ihnen von dem kurzen Ausflug noch in Erinnerung ist.

Eine Alternative mit etwas mehr Aufwand ist eine kurze Reflexion des Tages. Legen Sie sich ein Notizbuch zu, in dem Sie jeden Abend hineinschreiben, welche besonderen Eindrücke und Stimmungen Sie an dem abgelaufenen Tag erlebt haben. Durch diese Reflexion lernen Sie sich Schritt für Schritt besser kennen.

Sport und Entspannung – zwei starke Partner

Wenn es Ihnen schwerfällt, die nötige Ruhe und Abstand für diese Übungen zu finden, können Ihnen Entspannungstechniken in Form einfacher Atemtechniken helfen. Und wer ohnehin regelmäßig Sport treibt, kann die Fähigkeit des In-sich-Hineinhorchens leichter auf andere Situationen übertragen.

Es kann und darf spielerisch leicht sein. Alles, was es für dieses Experiment braucht, ist ein wenig Offenheit.Vielleicht ist diese Anregung ja eine Hilfe, um dem jährlichen Trubel und Konsumwahnsinn ein Stück zu entkommen und die schönen Momente bewusster zu genießen.

Ich wünsche Ihnen eine friedliche und erholsame Weihnachtszeit.

Ihr Marc Scholten

 

 

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